In der Folge werden einige zentrale Elemente schamanischer Heilungsrituale
beschrieben. Anhand der Gegenüberstellung von traditionellem und westlichem
Vorgehen werden Gemeinsamkeien und Unterschiede schamanischer Heilsitzungen
dargestellt.
Vorbereitung für eine Heilung
Traditioneller Schamanismus: Traditionell unterziehen sich Schamanen
im Vorfeld einer Heilung einer Vielzahl von vorbereitenden Maßnahmen,
wie z. B. Fasten, sexuelle Abstinenz, Diät, Reinigungsrituale (Schwitzhütte)
etc, die je nach Gegend variieren.
"Neo"-Schamanismus: Moderne Schamanen treffen seltenst vorbereitende
Maßnahmen. Eine Ausnahme bildet dabei, das Ausräuchern der Praxisräume
mit (meist exotischen) Pflanzen.
"Werkzeuge" der Schamanen
Traditioneller Schamanismus
Schamanen verwenden traditionell bei ihren Heilungen:
1) Ihren Kontakt zu geistartigen Helfern (Krafttier, Ahnen, geistige
Lehrer, Totem, Hüter der Landschaft etc.)
Ein Schamane ohne Geisthelfer ist nicht denkbar!!
2) Dramatische Elemente:
2.a) Klang (kollektive und individuelle Lieder, wirkliche und unwirkliche
Sprachen, Imitationen von Tierstimmen etc.), Rhythmus (Trommel, Rassel,
Bogen etc.) und Kostüme (Kronen, Masken, Kleidung etc.)
2.b) Die "theatralische" Darstellung des Tiergeistes, der Erlebnisse
auf der Jenseitsreise, aber auch der Konflikte des Klienten durch den Schamanen.
3) Kräuter, Mineralien, Tiersubstanzen, Amulette.
4) Räucherungen und Waschungen
"Neo"-Schamanismus
1) Auch im westlichen Schamanismus steht die Zusammenarbeit mit geistartigen
Helfern im Zentrum des Heilungsgeschehens.
2.a) Genau wie ihre indigenen Kollegen verwenden auch die Schamanen
in den Industriegesellschaften Gesang, Rasseln und Trommel bei ihren Ritualen.
Kostüme werden in der Regel keine getragen.
2.b) Auch Dramatisierungen von Konflikten des Klienten durch den Schamanen
oder Personengruppen finden statt. Unter dem Einfluß der Familien-Aufstellungstherapie
nach Bert Hellinger entwickelte sich eine spezifische Form der Aufstellung,
die sogenannte "Schamanische Aufstellung". In Verlauf von ÑSchamanischen
Aufstellungenì sind alle Variationen von Trance anzutreffen. Das heißt,
je nach Schamane befinden sich nur der Schamane (Aufstellungsleiter),
oder sämtliche an der Aufstellung beteiligten Personen in Trance.
Mehr zu "Schamanischen Aufstellungen" auf meiner Homepage unter:
http://www.svensauter.de/schaman/auf/schaman.auf.html
3) Die Verschreibung von Kräutern, Mineralien, Tiersubstanzen,
Homöopathika! kennen auch die "neuen" Schamanen. Amulette finden höchst
selten Anwendung.
4) Während es häufig zu rituellen Räucherungen kommt,
finden rituelle Waschungenkeine Anwendung.
Die schamanische Heilung selbst
A) Vorgespräch.
Zu Beginn des Rituals findet in beiden Traditionen ein diagnostisches
Gespräch zwischen dem Schamanen und der Klientin/dem Klienten (evtl.
Familienmitgliedern, Partnern) statt. Anders als in traditionellen Gesellschaften
wird der Schamane hier bei uns aber nicht als Vertreter einer tradierten
Ordnung oder als Person mit religiösen, priester-ähnlichen Funktionen
gesehen.
B) Intimität vs. Öffentlichkeit.
Im Gegensatz zu traditionellen Heilritualen, welche öffentlich
im Kreis der Familie und der Nachbarn, oder gar des gesamten Stammes abgehalten
werden (oft im Haus der Familie oder auf besonderen, dafür vorgesehenen
Gemeindeplätzen oder in zu diesem Zweck erbauten Hütten) findet
bei uns die Heilsitzung in einer Praxis statt. Selten sind mehr Personen
als der Schamane und die Klientin/der Klient anwesend.
C) Trance.
Genau wie die indigenen Schamanen erzeugen auch unsere Schamanen einen
Trancezustand, indem sie ihre geistigen Helfer (Krafttiere, Lehrer usw.)
um Unterstützung bitten. Unter Zuhilfenahme ihrer, über die beschränkten
menschlichen Möglichkeiten hinausreichenden Fähigkeiten, diagnostiziert
der Schamane bestehende Blockaden und Verstrickungen im System des Klienten.
Durch den erweiterten Blick aus einer anderen "Nicht-Alltäglichen"
Wirklichkeit erhält die Krankheit oftmals einen Sinn im biografischen
Gefüge der Klienten. Anders als in traditionellen Gesellschaften liegt
jedoch der Focus der Trance nicht auf der Suche nach einem Verstoß
des Klienten gegen eine tradierte Ordnung.
D) Aktive/passive Beteiligung des Klienten am Ritual.
Traditioneller Schamanismus: In traditionellen Heilungen kommt es zu
keiner aktiven Beteiligung der Klienten am Ritualgeschehen.
"Neo"-Schamanismus: Auch in den Ritualen der westlichen Schamanen ist
die aktive Teilnahme der Klienten an der Trance des Schamanen selten. Die
Klientin/der Klient wird je nach Schamane passiver oder aktiver in die
rituelle Handlung miteinbezogen. Die meisten Schamanen ziehen es jedoch
vor, ihre Klienten während der Behandlung eine passive, sogenannte
"Entspannungshaltung" einnehmen zu lassen, wobei sie nicht aktiv an der
Trance des Schamanen partizipieren und es auch zu keiner Veränderung
ihres Bewußtseins kommt. Im weiteren Verlauf der Sitzung wirkt
der sich in Trance befindende Schamane direkt energetisch- heilend, auf
den Klienten ein. Hat der Schamane zusätzlich Erkenntnisse in Lebenzusammenhänge
des Klienten erlangt, werden diese dem Klienten während oder am Ende
der Trance mitgeteilt. Ein abschließendes Gespräch hilft die
neuen Einsichten und Gefühle zu verstehen und heilsam zu integrieren.
Einige moderne Schamanen verwenden auch Elemente aus anderen Therapiesystemen
wie "Reiki", der "NLP" (Timeline) und dem "Katatymen Bilderleben" um eine
aktivere Einbindung ihrer Klienten ins Heilungsgeschehen zu erreichen.
Auch andere meditativ-hypnotische Techniken werden angewendet. Inwieweit
solche trance-induzierenden Therapieformen ohne Beteiligung von Geisthelfern
als schamanisch zu bezeichnen sind sei dahingestellt.
E) Wahrhaftigkeit.
Wichtig für das Gelingen einer schamanischen Sitzung, sowohl in
traditionellen, als auch in unseren Gesellschaften, ist die Bereitschaft
des Schamanen, die aus einer anderen Wirklichkeit stammenden Einsichten
unverfälscht wiederzugeben auch wenn dadurch möglicherweise gesellschaftliche
Tabu-Themen berührt werden.
Sowohl in traditionellen wie in westlichen Gesellschaften verhalten
sich die Schamanen ihren Klienten gegenüber loyal und annehmend.
Es findet keine Verurteilung der Klienten statt.
Dem Klienten wird auf diese Art und Weise die Möglichkeit gegeben,
über das emotionale Durchleben der von ihm mit Schuld oder Verbot
besetzten Lebensthemen, innere Konflikte und aufgestaute Emotionen zu verarbeiten
und zu lösen.
F) Heilung.
F.a) Psychotherapeutische Ebene
Psychotherapeutisch werden beim Patienten durch die im Ritual neu gewonnenen
Einblicke in seine Lebenssituation, über psycho-neuro-immunologische
Wirkmechanismen seine Selbstheilungskräfte aktiviert und die
Krankheitssymptome spezifisch beeinflußt (Andreas Reimers). Anders
als in der Gestalttherapie, dem Psychodrama und anderen erlebnis-orientierten
Therapieformen übernimmt es nicht der Klient, sondern vorwiegend der
Schamane selbst (in der "Schamanischen Aufstellung" die Gruppe), die Gefühle,
Wünsche und Konflikte des Klienten darzustellen.
Das "Warum" einer Krankheit erhält im Gegensatz zur psychoanalytischen
Therapie einen völlig inflationären Wert, alles trachtet nach
dem "Was und wie kann ich etwas verändern?"
Im Wesentlichen geht es in der schamanischen Therapie um die Suche
nach versteckter oder blockierter Kraft im System des Klienten und nicht
um die Suche nach Verstrickungen.
Anders, als in der traditionellen Stammesgemeinschaft, findet der Klient
im westlichen Schamanismus nicht durch seine Eingliederung im überliefertem
Stammesmythos Heilung, sondern in der Erschaffung seines individuellen
Mythos und der Selbstpositionierung darin.
Schamanische Therapien verlassen den rückwärtsgewandten Blick
der "problem-orientierten" Psychotherapien und zeigen eine Ähnlichkeit
mit "lösungs-orientierten" Kurzzeittherapien ( z. B. nach de Shazer).
F.b) Energetische Ebene
Energetisch werden durch gezielten Einsatz der Heilungskräfte
und des Wissens der geistartigen Helfer bestehende Blockaden der "Lebenskraft"
aufgehoben.
F.c) Medikamentöse Ebene
Die Verschreibung von Kräutern, Homöopathika, Mineralien,
Vitaminen erfolgt in der Regel aufgrund der naturheilkundlichen Analyse
der Tranceerlebnisse. Somit ist das Gelingen einer Heilung auch immer vom
naturheilkundlichen Wissensschatz der jeweiligen Schamanen abhängig.
Die Medikamente sollen dem Patienten parallel zu den schamanischen Interventionen
auf seinem Heilungsweg behilflich sein.
G) Weiterführende Anweisungen.
Am Ende einer traditionellen Heilung werden den Patienten oft Anweisungen
zur Ausführung von bestimmten Ritualen, das wiederholte Sprechen von
Heiltexten usw. gegeben. Ein solches Vorgehen kennt auch der westliche
Schamanismus.
Die Menschen, die Vorstellungen, die Wirklichkeiten
Der Mensch ist, wie alles, was in dieser Welt lebt, ein äußerst
vielschichtiges Wesen und dieser Tatsache sollten wir vermehrt Beachtung
schenken. Die Anerkennung der Vielschichtigkeit aller Handlungen und Daseinszustände
zeichnet eine Kultur und damit auch die in ihr vorkommenden Therapieformen
aus.
Für eine ganze Weile haben wir gedacht, daß unsere Kultur
eine Art Krönung menschlichen Daseins auf dieser Welt darstellt, doch
zunehmend müssen wir erkennen, daß die alten Völker über
Zugänge und Wissen zum Leben und zum Erhalt dieses Planeten verfügten,
die in ihrer Fülle einzigartig und auch für uns moderne Menschen
unverzichtbar sind.
Die schamanische Ritualtherapie ist EINE Möglichkeit, die in unserem
Leben anstehenden Konflikte unter Zuhilfenahme von Informationen aus einer
anderen Wirklichkeit zu betrachten.
Sie helfen uns, die Mythen, die wir selbst oder andere zu unserem Leben
entworfen haben, nochmals neu zu überdenken und somit auch neu zu
gestalten. Denn erstens ist alles anders und zweitens, als wir es uns gedacht
haben.
Sven Sauter - im Frühling 2005
(Lektorat: Charotte Rob & Manuel Breuer)